Sich in Luther hineindenken

Zitate zu:

  • Wie Luther möchte, dass man seine Werke liest
  • Wie man die Bibel lesen soll
  • Gottes und der Menschen Gerechtigkeit
  • Römer 1,16-17


Zu: Wie Luther möchte, dass man seine Werke liest

„Wohlan, so laß es in Gottes Namen gehen, nur daß ich freundlich bitte: wer meine Bücher zu dieser Zeit haben will, der lasse sie sich beileibe nicht ein Hindernis sein, die Schrift selbst zu studieren, sondern lege sie sich so hin, wie ich mir des Papstes Dekrete und der Sophisten Bücher hinlege. Das geschieht, damit ich von Zeit zu Zeit sehen kann, was sie gemacht haben, oder auch die Geschichte der Zeit ermessen8 und nicht, damit ich darin studieren, oder so genau dem folgen müßte, was sie gemeint haben. Nicht viel anders verfahre ich auch mit den Büchern der Väter und Konzilien und folge damit dem Beispiel Augustins, der unter anderen der erste und fast der einzige ist, der von aller Väter und Heiligen Bücher ungefangen und allein der Heiligen Schrift unterworfen sein will. Darüber kam er in einen harten Strauß mit Hieronymus, der ihm seiner Vorfahren Bücher vorwarf; aber daran kehrte er sich nichts. Und wäre man solchem Beispiel Augustins gefolgt, wäre der Papst kein Antichrist geworden, und wäre das unzählige Ungeziefer, Gewürm und Gewimmel10 der Bücher nicht in die Kirche gekommen und die Bibel ganz auf der Kanzel geblieben.“

Martin Luther: Vorrede zum 1. Band der deutschen Schriften (1539)

Zu: Wie man die Bibel lesen soll (statt anderer Bücher)

„Darüber hinaus will ich dir eine rechte Weise in der Theologie zu studieren anzeigen, in der ich mich geübt habe. Wenn du die innehältst, sollst du so gelehrt werden, daß du selbst (wo es nötig wäre) gerade so gute Bücher machen könntest, wie die Väter und Konzile. Ich darf mich (in Gott) auch vermessen und ohne Hochmut und Lügen zu rühmen wagen, daß ich etlichen der Väter nicht viel nachstehen wollte, wenn es Büchermachen gelten sollte; in bezug auf das Leben kann ich mich bei weitem nicht desgleichen rühmen. Und das ist die Weise, die der heilige König David im 119. Psalm lehrt (und die ohne Zweifel auch alle Patriarchen und Propheten gehalten haben). Da wirst du drei Regeln drin finden, die den ganzen Psalm hindurch reichlich vorgetragen werden. Sie heißen: Gebet, Meditation, Anfechtung.
Erstens sollst du wissen, daß die heilige Schrift ein solches Buch ist, das aller anderen Bücher Weisheit zur Narrheit macht, weil keines vom ewigen Leben lehrt, außer diesem allein. Deshalb sollst du an deinem Sinn und Verstand unbedingt verzagen, denn damit wirst du es nicht erlangen, sondern mit solcher Vermessenheit dich selbst und andere mit dir vom Himmel in den Abgrund der Hölle stürzen (wie es Luzifer geschah). Sondern kniee in deinem Kämmerlein nieder und bitte mit rechter Demut und Ernst zu Gott, daß er dir durch seinen lieben Sohn seinen Heiligen Geist geben wolle, der dich erleuchte, leite und dir Verständnis gebe.
(Tue das so) wie du siehst, daß David im oben genannten Psalm 119 immer (vgl. V. 26f.; 33ff.) bittet: Lehre mich, Herr, unterweise mich, führe mich, zeige mir, und der Worte viel mehr. Obwohl er doch den Text des Mose und andere Bücher mehr gut konnte, auch täglich hörte und las, will er dennoch den rechten Meister der Schrift selbst dazu haben, auf daß er ja nicht mit der Vernunft drein falle, und sein eigener Lehrer werde. Denn da werden Sektengeister draus, die sich dünken lassen, die Schrift sei ihnen unterworfen, und leicht mit ihrer Vernunft zu erlangen, als wären es Fabeln, bei denen sie keines Heiligen Geistes noch Betens bedürften.
Zum zweiten sollst du meditieren, das ist: nicht allein im Herzen, sondern auch äußerlich die mündliche Rede und die Worte im Buch dem Buchstaben nach immer wiederholen, lesen und noch einmal lesen, mit fleißigem Aufmerken und Nachdenken, was der Heilige Geist damit meint. Und hüte dich, daß du dessen nicht überdrüssig werdest, oder denkest, du habest es mit einem oder zwei Mal genug gelesen, gehört, gesagt, und verständest es alles von Grund auf. Denn da wird nimmermehr ein besonderer Theologe daraus, sie sind wie das unreife Obst, das abfällt, ehe es halb reif wird.
Deshalb siehst du in dem Psalm, wie David immerdar rühmt, er wolle reden, dichten, sagen, singen, hören, lesen, Tag und Nacht und immerdar, doch nichts als allein von Gottes Wort und Geboten. Denn Gott will dir seinen Geist nicht ohne das äußere Wort geben. Da richte dich nach; denn er hat es nicht vergeblich befohlen, zu schreiben, zu predigen, zu lesen, zu hören, zu singen, zu sagen usw.
Zum dritten ist da die Anfechtung. Die ist der Prüfstein, der dich nicht allein wissen und verstehen lehrt, sondern auch erfahren, wie recht, wie wahrhaftig, wie süß, wie lieblich, wie mächtig, wie tröstlich Gottes Wort sei, Weisheit über alle Weisheit.
Deshalb siehst du, wie David in dem genannten Psalm sooft über alle möglichen Feinde, frevelhafte Fürsten oder Tyrannen klagt, über falsche Geister und Spaltungen, die er erleiden muß, deshalb, weil er meditiert, das heißt, mit Gottes Wort auf alle Weise umgeht (wie gesagt). Denn sobald Gottes Wort durch dich zunimmt, so wird dich der Teufel heimsuchen, dich zum rechten Doktor machen und durch seine Anfechtung lehren, Gottes Wort zu suchen und zu lieben. Denn ich selbst (auf daß ich Mäusedreck mich auch unter den Pfeffer menge)19 habe meinen Papisten sehr viel zu danken, daß sie mich durch des Teufels Toben so zerschlagen, bedrängt und geängstet,20 das ist zu einem ausreichend guten Theologen gemacht haben, wohin ich sonst nicht gekommen wäre. Und was sie dagegen an mir gewonnen haben, da gönne ich ihnen Ehre, Sieg und Triumph herzlich gut, denn so wollten sie es haben.
Siehe, da hast du Davids Regel. Studierst du nun gut diesem Vorbild nach, so wirst du mit ihm in demselben Psalm (V. 72) auch singen und rühmen: »Das Gesetz deines Mundes ist mir lieber als viel tausend Stück Gold und Silber.« Ebenso V. 98-100: »Du machst mich mit deinem Gebot weiser, als meine Feinde sind; denn es ist ewiglich mein Schatz. Ich habe mehr Einsicht als alle meine Lehrer; denn über deine Mahnungen sinne ich nach. Ich bin klüger als die Alten; denn ich halte mich an deine Befehle« usw. Und du wirst erfahren, wie schal und faul dir die Bücher der Väter schmecken werden, wirst auch nicht allein der Widersacher Bücher verachten, sondern dir selbst auch, im Schreiben wie im Lehren, je länger je weniger gefallen. Wenn du hierher gekommen bist, so hoffe getrost, daß du angefangen habest, ein rechter Theologe zu werden, der nicht allein die jungen, unvollkommenen Christen, sondern auch die fortgeschrittenen und vollkommenen lehren kann. Denn die Kirche Christi hat alle Arten Christen in sich: junge, alte, schwache, kranke, gesunde, starke, tätige, faule, schlichte, weise usw.
Fühlst du dich aber, und läßt dich dünken, du besäßest es sicher und schmeichelst dir mit deinem eigenen Büchlein, Lehren oder Schreiben, als habest du es sehr kostbar gemacht und trefflich gepredigt; es gefällt dir auch sehr, daß man dich vor andern lobe, willst auch vielleicht gelobt sein, sonst würdest du trauern oder ablassen: bist du von der Art, Lieber, so greif dir selbst an deine Ohren, und greifst du recht, so wirst du ein schönes Paar großer, langer, haariger Eselsohren finden. Dann wage vollends die Kosten daran und schmücke sie mit goldenen Schellen, auf daß man dich hören könne, wo du gehst, mit Fingern auf dich weisen und sagen: Sehet, sehet, da geht das feine Tier, das so köstliche Bücher schreiben und vortrefflich gut predigen kann. Alsdann bist du selig und überselig im Himmelreich – ja, da, wo dem Teufel samt seinen Engeln das höllische Feuer bereitet ist. In Summa: laßt uns Ehre suchen und hochmütig sein, wo wir dürfen. In diesem Buch ist die Ehre allein Gottes, und es heißt (1. Petr. 5, 5): »Gott widersteht den Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt er Gnade«. Dem gehört die Ehre in alle Ewigkeit. Amen.“

Martin Luther: Vorrede zum 1. Band der deutschen Schriften (1539)

Zu: Gottes und der Menschen Gerechtigkeit

„Das Hauptanliegen und die Absicht des Apostels in diesem Brief [der Römerbrief] ist es, alle eigene Gerechtigkeit und Weisheit zu vernichten und die Sünden und die Torheit, die es nicht gab (d.h. von denen wir eben wegen solcher Selbstgerechtigkeit meinten, daß es sie nicht gäbe), uns wiederum in ganzer Größe und Mächtigkeit vor Augen zu führen (d.h. uns dahin zu bringen anzuerkennen, daß es sie immer noch, und zwar in großer Zahl und gewaltigem Umfang gibt), um so dann schließlich zu erkennen, daß wir Christus und seine Gerechtigkeit brauchen, damit sie ganz vernichtet würden. Und dies tut der Apostel bis zum Kapitel 12; von da an aber bis zum Schluß lehrt er, was für und welcherlei Taten wir tun sollen nach der Gerechtigkeit, die wir empfangen haben. Denn vor Gott ist es nicht so, daß irgend jemand gerecht wird dadurch, daß er gerechte Taten tut (worauf die törichten Juden, Heiden und alle Selbstgerechten in ihrem Hochmut vertrauen); sondern der (schon vorher) gerecht ist, tut gerechte Taten, wie (1. Mose 4, 4) geschrieben steht: »Der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer«, er sah nicht zuerst auf das Opfer.
Zu Vers 1. Es gibt nämlich gewisse Leute, und hat sie bei den Heiden wie auch bei den Juden gegeben, die glaubten, es genüge, wenn sie nicht nur zum Schein und vor den Menschen, sondern im innersten Herzen Tugenden und Kenntnisse besäßen. So denken auch viele Philosophen. Und wenn sie ihre Gerechtigkeit auch vor den Menschen nicht zur Schau trugen und sich ihrer nicht rühmten, sondern sie nur aus Liebe zur Tugend und Weisheit vertraten (solche Menschen waren es, die Besten und Reinsten und- abgesehen von Sokrates – sehr wenig bekannt), so konnten sie sich doch nicht enthalten, im Innern an sich selbst Gefallen zu finden und sich wenigstens vor sich selbst in ihrem Herzen als weise, gerechte und gute Menschen zu rühmen, von denen der Apostel hier sagt: »Da sie sich für weise hielten, sind sie zu Narren geworden« (Röm. 1, 22).
Hier wird vielmehr gelehrt, daß das Gegenteil geschieht. Denn nicht nur darum ist man in der Kirche bemüht, unsere Gerechtigkeit und Weisheit als nichtig zu erweisen und weder rühmend zu erheben noch anerkennend zu preisen.
Nein, sage ich, nicht darauf wird so sehr hingearbeitet. Es heißt ja im Evangelium (Matth. 5, 15 u. 14): »Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind«, und: »Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein«. Sondern darauf, daß sie ganz vernichtet und aus unserem Herzen und unserem eigensten Wollen herausgerissen wird. Denn wenn wir uns vor uns selbst für niedrig halten, so wird es leicht sein, anderer Urteile und Lob für nichts zu achten.2 Wie der Herr durch den Mund des Propheten Jeremia (Jer. 1, 10) sagt: »daß du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst« d.h. alles, was in uns ist (nämlich alles, was aus uns und in uns ist, woran wir unser Wohlgefallen haben), »und bauen und pflanzen sollst«, d.h. alles, was außerhalb unser und in Christus ist. Und (beachte auch) das Gleichnis Daniels (Dan. 2, 34) von dem Stein, der das Bild zermalmte.3 Denn Gott will uns nicht durch unsere eigene, sondern durch eine außer uns liegende Gerechtigkeit und Weisheit retten, die nicht von uns kommt und entsteht, sondern von anderswoher in uns hineinkommt, die nicht auf unserer Erde wächst, sondern vom Himmel kommt. Also muß man eine ganz außer uns liegende und fremde Gerechtigkeit lehren. Deshalb muß man zuerst die eigene, innere Gerechtigkeit herausreißen (vgl. Ps. 45, 11; 1. Mose 12, 1; Hohel. 4, 8f.; Jos. 3, 16; Ps. 114, 3). Aber nun will Christus, daß wir alle unsere Leidenschaften so ablegen, daß wir nicht nur für unsere Fehler keine Schmach fürchten und für unsere Verdienste nicht nach Ruhm und eitler Freude verlangen, sondern wir sollen uns auch jener außer uns liegenden Gerechtigkeit, die aus Christus in uns ist, vor den Menschen nicht rühmen und von den Leiden und Übeln, die von ihm über uns gebracht werden, nicht zu Boden werfen lassen. Vielmehr soll ein wahrer Christ überhaupt so gar nichts zu eigen haben, so ganz sich aller Dinge entledigt haben, daß er, widerfahre ihm Ehre oder Schmach, immer der gleiche bleibt, weil er weiß, daß die ihm erwiesene Ehre nicht ihm, sondern Christus erwiesen wird, dessen Gerechtigkeit und dessen Gaben in ihm leuchten, und daß die ihm zugefügte Schmach sowohl ihm als auch Christus zugefügt wird. Aber vieler Prüfungen bedarf es (besondere Gnade ausgenommen) zu dieser Vollkommenheit. Denn mag auch einer auf Grund natürlicher oder geistlicher Gaben vor den Menschen weise, gerecht und gut sein, so gilt er deswegen doch vor Gott nicht so, besonders wenn er selbst sich dafür hält. Darum muß er sich in allen diesen Dingen in der Demut halten,4 so als ob er bis dahin nichts habe, und muß die nackte Barmherzigkeit Gottes erwarten, der ihn für gerecht und weise erklärt. Das tut Gott dann, wenn man selbst demütig gewesen und nicht etwa Gott zuvorgekommen ist, indem man sich selbst rechtfertigt und meint, man sei etwas, wie es 1. Kor. 4, 3-5 heißt: »Auch richte ich mich selbst nicht. Der mich aber richtet, ist der Herr, darum richtet nicht vor der Zeit« usw. Freilich finden sich viele, die die Güter zur Linken, d.h. die zeitlichen, um Gottes willen nichts achten und gern verlieren, wie die Juden und die Ketzer. Aber es sind nur wenige, welche die Güter zur Rechten und gerechten Taten für nichts achten, um Christi Gerechtigkeit zu erlangen. Das nämlich können Juden und Ketzer nicht. Und dennoch wird niemand erlöst werden, wenn es nicht geschieht. Denn immer wollen und hoffen sie, daß ihre eigenen Leistungen vor Gott anerkannt und belohnt werden. Aber der Satz steht fest: »So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen« (Röm. 9, 16) …“

Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516)

zu: Römer 1,16-17

„Zu Vers 16: »Denn es ist eine Kraft Gottes.« Zu beachten ist, daß »Kraft« an dieser Stelle dasselbe bedeutet wie Fähigkeit oder Macht, »Möglichkeit«, d.h. Vermögen, und »Kraft Gottes« meint nicht, die durch welche er selbst seiner Beschaffenheit nach in sich kräftig ist, sondern durch die er selbst Kräftige und Mächtige schafft.5 So wie man »Gabe Gottes«, »Geschöpf Gottes«, »Sache Gottes« sagt, so auch »Kraft Gottes« (d.h. die von Gott kommende Kraftentfaltung). Vergleiche Apg. 4, 33: »Mit großer Kraft gaben die Apostel Zeugnis von der Auferstehung Jesu Christi«, und Apg. 1, 8: »Ihr werdet aber die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, welcher auf euch kommen wird« und Luk. 24, 49: »Bis daß ihr angetan werdet mit Kraft aus der Höhe« und Luk. 1, 35: »Und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten.«
Zweitens ist zu beachten, daß es »eine Kraft Gottes« heißt zum Unterschied von der Kraft der Menschen, d.h. der Fähigkeit, durch welche der Mensch nach dem Fleische kräftig ist und gerettet wird und durch die er imstande ist, das zu tun, was des Fleisches ist. Aber diese Kraft hat Gott durch Christi Kreuz ganz und gar entleert, um uns seine Kraft zu schenken, durch die der Geist kräftig und gerettet wird und durch die man imstande ist, das zu tun, was des Geistes ist: Ps. 60, 13f.: »Denn Menschenhilfe ist nichts nütze. Mit Gott wollen wir Taten tun« und Ps. 33, 16f.: »Einem König hilft nicht seine große Macht; ein Held kann sich nicht retten durch seine große Kraft. Rosse helfen auch nicht; da wäre man betrogen; und ihre große Stärke rettet nicht.« Es ist also das gleiche, wenn man sagt: das Evangelium ist die Kraft Gottes, d.h. das Evangelium ist die Kraft des Geistes oder Reichtum, Waffen, Schmuck und alles Gute eben dieses Geistes, von dem er all sein Vermögen hat, und das von Gott …
Daraus ergibt sich als endgültiger Schluß: Wer an das Evangelium glaubt, der muß schwach und töricht vor den Menschen werden, damit er in der Kraft und Weisheit Gottes mächtig und weise sei. Daher heißt es 1. Kor. 1, 27.: »Was schwach und töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er, was stark und weise ist, zuschanden mache. Denn die göttliche Schwachheit und Torheit ist stärker und weiser als die Menschen sind.« Wenn du also hörst, daß die Kraft Gottes vorschnell verworfen wird, so verstehe, daß es sich nur um die Kraft der Menschen oder der Welt und des Fleisches handelt. Alle Tugend, Weisheit, Gerechtigkeit muß also verborgen, begraben werden, sie darf nicht hervortreten, ganz nach dem Bild und Beispiel Christi, der sich selbst wahrlich so entäußerte, daß er Macht, Weisheit und Güte vollkommen verbarg, und vielmehr Schwäche, Torheit und Mühsal zeigte. So muß auch der, der mächtig, weise, sanft ist, diese Eigenschaften so haben, als habe er sie nicht. Höchst anfällig ist daher das Leben der Fürsten der Welt und derer in öffentlichen Ämtern, wie auch derer, die sich durch Macht und Klugheit durchsetzen müssen.
»Zum Heil«: Das heißt: (Das Evangelium) ist eine Kraft, alle Gläubigen zu erretten, oder: es ist das Wort, das mächtig ist, alle zu erretten, die daran glauben, und das durch Gott und aus Gott. Es ist so, als wenn man sagen würde: Diese Gemme hat von Gott die Kraft, daß wer sie trägt, nicht verwundet werden kann, ebenso hat das Evangelium von Gott Kraft, daß wer daran glaubt, errettet wird. So ist also der, der es hat, mächtig und weise vor Gott und aus Gott, mag er auch deswegen vor den Menschen als töricht und ohnmächtig gelten.
Zu Vers 17: »Die Gerechtigkeit«, durch die einer solchen Heils würdig ist, d.h. die Gerechtigkeit »Gottes«, durch die allein die Gerechten vor Gott gerecht sind, »wird darin offenbart«, weil sie vorher verborgen war, da man glaubte, daß sie aus eigenen Werken erwüchse. Aber jetzt wird sie offenbart, weil keiner gerecht ist, der nicht glaubt, wie es Mark. 16, 16 heißt: »Wer da glaubt« »aus Glauben in Glauben: wie geschrieben steht«: Hab. 2, 4 »Der Gerechte«:, d.h. vor Gott, aber »aus dem Glauben«, einzig nur aus seiner Glaubensbereitschaft an Gott, »lebt«, d.h. wird selig.
»Die Gerechtigkeit Gottes wird offenbart.« In Menschenlehren wird die Gerechtigkeit der Menschen offenbart und gelehrt, d.h. wer und wie einer gerecht sei und werde, vor sich und vor den Menschen. Allein im Evangelium aber wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart (d.h. wer und wie einer gerecht sei und werde vor Gott), nämlich allein durch den Glauben, durch den einer dem Worte Gottes glaubt. Wie es Mark. 16, 16 heißt: »Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubet, der wird verdammt werden.« Denn die Gerechtigkeit Gottes ist der Grund des Heils. Und hier darf wieder unter »Gerechtigkeit Gottes« nicht die verstanden werden, durch die einer in sich selbst gerecht ist, sondern durch die wir von ihm selbst gerecht gemacht werden, was durch den Glauben an das Evangelium geschieht. Daher sagt der hl. Augustinus im 11. Kapitel von »Über Geist und Buchstaben«: »Deshalb heißt sie Gerechtigkeit Gottes, weil er dadurch, daß er sie gewährt, Gerechte schafft. So ist auch das das Heil des Herrn, wodurch er (die Menschen) heil, d.h. selig macht.« Und dasselbe sagt er im Kap. 9 desselben Werks.10 Und sie heißt so zum Unterschied von der Gerechtigkeit der Menschen, die aus den Werken entsteht. So definiert es Aristoteles im 3. Buch der Ethik11 ganz deutlich, nach ihm folgt und entsteht die Gerechtigkeit aus den Taten. Aber nach Gottes Lehre geht sie den Werken voraus und die Werke entstehen aus ihr. Ganz ähnlich kann die Werke eines Bischofs oder Priesters niemand ausführen, wenn er nicht vorher geweiht und dazu geheiligt ist. Gerechte Werke von Menschen, die noch nicht gerecht sind, sind (deshalb) wie die Werke eines, der zwar die Handlungen eines Priesters und Bischofs vollzieht, selbst aber noch nicht Priester ist, d.h. sie sind töricht und Possenwerk und Gauklerkünsten vergleichbar.
Zweitens ist anzumerken, die Worte: »aus Glauben in Glauben« werden verschieden erklärt. Lyra versteht sie so: »aus dem ungeformten Glauben zum geformten Glauben«. Das ist aber ganz wertlos, weil kein Gerechter aus dem ungeformten Glauben lebt und auch die Gerechtigkeit Gottes nicht daraus kommt. Beides aber sagt doch (Paulus) hier. Es sei denn, Lyra wolle unter dem »ungeformten Glauben« den der Anfänger verstehen und unter geformtem den der Vollkommenen; denn der ungeformte Glaube ist kein Glaube, sondern vielmehr Gegenstand des Glaubens. Denn ich glaube nicht, daß jemand mit ungeformtem Glauben glauben kann, aber das kann er damit gut, nämlich erwägen, was zu glauben ist, und so in der Schwebe bleiben. – Andere erklären so: »Aus Glauben, nämlich der Väter des alten Gesetzes, in den Glauben des neuen Gesetzes.« Und diese Erklärung läßt sich aufrechterhalten, wenn es auch scheint, als ob sie kritisiert und widerlegt werden könnte, nämlich damit, daß der Gerechte nicht aus dem Glauben Früherer lebt, während Paulus ja doch sagt: »Der Gerechte wird aus Glauben leben.« Die Väter haben dasselbe geglaubt wie wir, es ist ein und derselbe Glaube, wenn auch dunkler, so wie die Gelehrten jetzt dasselbe glauben wie die Ungebildeten, aber doch klarer. So scheint der Sinn (der genannten Worte) zu sein, daß die Gerechtigkeit Gottes gänzlich aus dem Glauben kommt, so aber, daß sie nicht in Erscheinung tritt, wenn sie fortschreitet und wächst, sondern zu immer klarerem Glauben führt, nach jenem Wort. 2. Kor. 3, 18: »wir werden verklärt (in sein Bild) von einer Herrlichkeit zur anderen.« Ebenso Ps. 84, 8: »sie gehen von einer Kraft zur anderen.« So bedeutet auch »von Glauben in Glauben«: dadurch daß man immer fester und fester glaubt, so daß »wer gerecht ist, noch weiter gerechtfertigt wird«, damit nicht einer ohne weiteres meine, er habe es ergriffen und so aufhört, zuzunehmen, d.h. daß er beginnt, abzunehmen. Der hl. Augustinus sagt in Kap. 11 von »Über Geist und Buchstaben«: »Vom Glauben derer, die viel reden, zum Glauben derer, die gehorchen«. Und Paul von Burgos: »Vom Glauben der Synagoge (gleichsam als vom Ausgangspunkt) zum Glauben der Kirche (gleichsam als zum Endpunkt).«15 Aber der Apostel sagt, daß die Gerechtigkeit aus dem Glauben kommt, die Heiden aber haben keinen Glauben gehabt, von dem sie zu einem anderen hätten geführt und so gerechtfertigt werden können.
Zu Vers 21: Erkenne also die Ordnung und die einzelnen Stufen des Verderbens.“

Martin Luther: Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516)