Predigt

September 2006

Kain und Abel

1. Mose 4,1-16a

1 Und Adam erkannte seine Frau Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mithilfe des HERRN. 2 Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann. 3 Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes. 4 Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, 5 aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. 6 Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? 7 Ist’s nicht so: Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. 8 Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. 9 Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? 10 Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. 11 Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. 12 Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. 13 Kain aber sprach zu dem HERRN: Meine Schuld ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. 14 Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir’s gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet. 15 Aber der HERR sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der HERR machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände. 16 So ging Kain hinweg von dem Angesicht des HERRN und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.

Liebe Gemeinde!

(1.) Nichts deutet in dieser Geschichte darauf hin, dass Kain ein brutaler Mensch oder sogar ein Krimineller gewesen ist. Er ist Sohn seiner Eltern wie Abel. Er wächst unter den gleichen Bedingungen auf wie sein Bruder. Er geht sei­nem Beruf nach wie dieser. Er kommt seinen Ver­pflichtungen genauso nach wie der – ein­schließ­lich der religiösen. Beide feiern sie Got­tesdienst. –
Und doch kommt es zur Katastrophe! Und so lesen wir: „Als sie auf dem Feld waren, erhob sich Kain gegen sei­nen Bruder Abel und schlug ihn tot.“

Das ist die uralte Geschichte Kains und Abels, die sich immer und immer wieder wiederholt hat, wiederholt und wiederholen wird: menschliche Geschwister leben neben- und miteinander. Und zu schicksalshaften Zeiten ge­schieht die Katast­rophe – zwischen benachbarten Natio­nalstaa­ten, zwischen Juden und Christen, zwischen Schwar­zen und Weißen, zwischen Sunniten und Schiiten, zwischen Türken und Kurden, bei den Übergrif­fen von Skinheads auf Asylbewerber, ja in Fa­milien, die in den Straßen deutscher Städte le­ben. Die erschreckendste Erkenntnis ist aber wohl die psychologische: dass letztlich jeder Mensch in eine Situation kommen kann, in der er selbst zum Täter wird!

2.) Muss es so sein? Ist dies ein ehernes und zugleich un­bere­chenbares Gesetz?
Worin liegt der Grund hierfür?
Wohl allein im Anders­sein. Wohl allein darin, dass ein Mensch anders ist als ein anderer. Das ist jedenfalls das einzige, was über Kain und Abel in diesem Bibelabschnitt gesagt wird: dass sie zwar Brüder, aber dass sie eben unterschied­lich sind.
Sie tragen unterschiedliche Namen – wir werden gleich auf sie zu sprechen kommen -,
sie üben unterschiedliche Berufe aus, Kain be­treibt Ackerbau, Abel ist Viehhirte. Ihre Lebens­gewohnheiten sind damit andere.
Und sogar ihre Gottesdienste sind verschieden; sie feiern getrennt an unterschiedlichen Orten.

(3.) Kain und Abel. Die Namen weisen über sich hinaus. Mit ihnen wird der Unterschied klar.

Wer ist Kain? Der Name könnte übersetzt heißen „Lanze“. Hier im Text wird ein he­bräisches Wortspiel wiedergegeben, das aber eher unver­ständ­lich ist. Eva nennt ihren Sohn Kain, >weil sie einen Mann von Gott er­worben hat<, so wird gesagt. Was meint das?
Auf jeden Fall wird mit dem Namen Kain die Stärke und die besondere Position des Erstgebo­renen, des Stamm­halters angedeutet; ihm gehört die Zukunft. Kain ist also der Starke; er wächst in diesem Bewußtsein auf und lebt in ihm.

Und Abel? Genau das Gegenteil. Abel scheint sein Da­sein eher ohne große Zukunftsperspektive zu fristen. Sein Name bedeutet übersetzt „Hauch“ (hebr. häwäl), und gemeint ist damit die Nichtigkeit menschlichen Lebens. Der Mensch ist ein Hauch, sagt die Bibel. Er muss verge­hen. Im Psalmlied singen wir: „Seht, er fällt des To­des Raub und sein Anschlag in den Staub!“ Und so steht Abels Leben, ablesbar an seinem Na­men, von Anfang an unter dem Vorzeichen des Vergehenmüssens.

(4.) Bleiben wir bei Abel: Aus­gerechnet sein Op­fer wird von Gott angesehen. Das ist bemer­kenswert und muss besonders hervorgehoben werden. Ja, ich meine sogar, hier zeigt sich schon ganz zu Anfang der Bibel das Evange­lium. Nach der Vertreibung aus dem Paradies scheint die Welt dem Chaos entgegenzulaufen: Kain er­schlägt Abel; die Menschen erheben sich gegen Gott und bauen einen himmelhohen Turm; die Welt geht in den Wassern der Sintflut zugrunde. Gerade deshalb ist bei diesen alttesta­mentlichen Geschichten darauf hinzuweisen, was eigent­lich in ihnen steckt. Und in der Tat hier bei Abel fin­den wir „Frohe Botschaft“, die sich im Neuen Testament be­stätigt findet.
Es tut einfach gut zu wissen, dass Gott den Schwachen und die Schwache sieht. Ihn, sie sein/ihr Tun anerkennt. Sein Opfer, ihr Opfer. Das Opfer freilich macht es nicht. Vielmehr der Respekt vor dem eigenen, abhängigen und doch freien, weil frei­gestelltem Geschöpf. Gott achtet uns Menschen. Er er­kennt das Lebensrecht ge­rade des Schwachen an. Ohne Leistung, ohne Verdienst bin ich beachtenswert, nur weil ich ich bin. Ich muss mich mit meinen Schwächen nicht unansehnlich fühlen als hätte ich eine Hasen­scharte im Gesicht. Vor Gott muss ich mich nicht verkriechen. Und selbst wenn die Menschen über mich reden würden, weiß ich, ich werde in guter Weise wahr­genommen, ja angenommen. Sogar bis in meine letzte Nichtigkeit und Schwäche. Bis zu dem Zeit­punkt, zu dem ich alles aufgeben und abgeben muss und ganz allein mich Gott an­vertraue.
Und insofern: welcher Mensch ist nicht ein Schwacher? Ein „Häwäl“ – so spricht man heb­räisch den Namen Abel? „Hauch“, so heißen wir alle. Und wir spüren das auch in schlaflosen Nächten und an Tagen, an denen die Lasten drü­cken. Aber Gott ist nicht zu groß und nicht zu weit weg und sich nicht zu schade, als dass er sich nicht der Schwachen annehmen könnte.

(5.) Und nun zu Kain. Als der Starke kann er es nun gar nicht hinnehmen, ja er ist empört, dass Gott ihn offenbar übersieht und links liegen lässt und das Opfer des Schwä­cheren, des im Grunde genommen „Unwerteren“, besser ansieht. Sein Weltbild der Über- und Unterordnung, der Wertmaßstäbe gerät so ins Wanken.
Kain fühlt sich benachteiligt und missachtet. Und wer könnte ihn nicht verstehen? Er macht doch alles richtig. Er versucht doch, Gott zu die­nen. Und was macht der? Der sieht nicht hin! Kain ist sich ganz sicher, er ist zu kurz gekommen.
Bemerkenswert ist hier nun, dass Kain so ganz selbstver­ständlich davon ausgeht, dass Gott auch ihm, besser ge­rade ihm, vielleicht sogar nur ihm, Beachtung schenken muss. Gott kann doch gar nicht anders als sich auf seine Seite, die Seite des Starken, des Erstgeborenen, des Mehrangesehe­nen stellen.
Gott funktioniert aber nicht nach menschlichen Vorstellungen.

Und so zerbricht nicht nur sein Weltbild, auch sein Got­tesbild gerät ins Wanken.
Als dürfe Gott nicht so tun, wie es ihm gefällt! Als be­dürfe auch der Starke des Arztes! In der Geschichte von den Arbeitern im Weinberg, sagt der Weinbergbesitzer: „Habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du scheel drein, weil ich so gütig bin?“ (Matthäus 20,15)

Kain kann Gottes Handeln nicht respektieren. Er verliert die nötige Demut Gott gegenüber. Er senkt ganz und gar nicht demütig seinen Blick, sondern zornig, wütend, lo­dernden Herzens. Er führt in seiner Kränkung nichts Gu­tes im Schilde.
Eine Entschränkung im Bösen geschieht hier: das ist das Schlimme! Die letzte Bezugnahme auf Gott, demgegen­über man sein Tun zu verant­worten hat, geht dem Kain verloren, eine Gefahr, in der alle Starken stehen und viel­fach auch un­terliegen. Und wer wäre nicht ein solch Starker bzw. eine solche Starke?

Ohne Gott? – Dostojewski hat einmal gesagt: „Wo Gott abgesetzt wird, da ist alles erlaubt.“ Vielleicht ist damit etwas zu viel gesagt?! Es gibt auch noch andere letzte Be­zugspunkte. Die Gottlosigkeit als solche muss nicht zwangsläufig in die Katastrophe führen. Sie wird aber möglich, wenn die letzten Rückbezüge eines Menschen reißen.

Von Gott wird hier gesagt, dass er die Katastrophe erahnt. Darum warnt er Kain: „Kain, pass auf dich auf! Bist du im Bösen, so lauert die Sünde vor deiner Tür!“
Gott lässt den Kain also nicht einfach laufen und auf abschüssiger Bahn dahin stolpern. Noch könnte Kain zu sich kommen und von seinem furchtbaren Weg ablassen.
Ich denke, auch wir kennen es, dass uns die war­nende und mahnende Stimme Gottes in den Weg tritt. Wir nennen es meist unser Gewissen. Wir wissen dann auch genau, was wir zu tun und vor allem, was wir zu lassen hätten. Wie oft beachten wir solche Warnzeichen nicht?

(6.) Dann geschieht aber, was nicht unbedingt geschehen müsste, aber offenbar doch unver­meidlich wird. Abel lässt unter der Mörderhand seines Bruders sein Leben.
Doch Kain nützt seine Tat nichts. Sie bringt keine Entlastung seiner aufgestauten Spannun­gen. Und er kommt auch nicht dazu, zur Tages­ordnung übergehen zu können. Er wird sofort zur Verantwortung gezogen. „Wo ist denn dein Bru­der?“ fragt Gott ihn. In seiner Verlegenheit fin­det er nur die schnippische Ge­genfrage: >Soll ich meines Bruders Hüter sein?<

Das Bemerkenswerte nun hier: die Geschichte ist nicht zu Ende. Vielmehr alles schreit nach Genugtuung. Das Blut Abels schreit zum Him­mel. Und das ist so wichtig für uns Kin­der des Jahres 2006, die wir noch vom Grauen der Gas­kammern wissen und vom Pol-Pot-Regime, und die aus­gemergelten Körper an den Stacheldräh­ten der Internie­rungslager auf dem Balkan vor Augen haben … und täglich in den Nachrichten die Zahl der Mordopfer im Irak ertragen müssen.
Die Geschichten sind mit den Morden nicht zu Ende. Gott fordert Re­chenschaft. Er ist nicht nur ein „lieber Gott“. Er liebt auch die Gerechtigkeit. Er mag es nicht, wenn die Ungerech­ten und Ver­antwortungslosen und die, die die Menschen knechten, Recht behalten. Und sie werden es deshalb auch nicht …

Und darum kann sich auch niemand mit der Frage herausreden: Soll ich denn meiner Ge­schwister Hüter sein?
Glauben wir denn wirklich, auch nur ein Mensch könnte sich selbst von seiner menschlichen und lebensnotwendigen Verantwortung suspendieren und den lie­ben Gott einen guten Mann sein las­sen?

(7.) Es geht noch einen Schritt weiter. Das Letzte in dieser Geschichte des brudermörderischen bru­derlosen Menschen ist nicht die Verurteilung zu dem unsteten, flüchtigen, gehetzten Dasein, son­dern das Letzte ist Gottes Barmherzigkeit. „Und der Herr machte dem Kain ein Zeichen, dass niemand ihn erschlüge, der ihn fände.“ Der bru­derlose Mensch soll trotzt und mit seiner Schuld weiterleben dürfen. Oder allgemeiner ausge­drückt: Der Geschwistermord soll nicht das Da­seinsgesetz dieser Welt werden. Darum wird das Leben des brudermörderischen Menschen ge­schützt.

Warum? Weil die Geschichte noch weitergeht. Sie endet dort, wo der Sohn Gottes der Bruder Kains wird. Seine Brüder bringen ihn um und bringen damit über sich all das gerechte Blut, das vergossen ist auf Erden, von dem Blut des ge­rechten Abel an (wie es in der Passionsge­schichte heißt). Aber er, der Gottessohn und Menschen­bruder, hat vom Kreuz herab für die Brudermörder ge­betet: „Vater, vergib ihnen“.

Liebe Gemeinde, wir können auf die Frage „Wo ist dein Bru­der?“ antworten: „Dort – am Kreuz! Er ist durch mich aber er ist auch für mich gestorben. Seine Stimme schreit zu Gott, aber eben nicht gegen mich, sondern für mich!“ Im Hebräer­brief heißt es „Die Stimme des Blutes Christi, das für uns vergossen ist, schreit lauter als die Stimme Abels.“
Und nun braucht unsere Geschichte nicht mehr die Ge­schichte Kains zu sein. Seit Christus, der Bruder, durch und für uns starb, ist Kain nicht mehr unser Schicksal. Wer von Gott angenom­men ist, der kann sich der Ge­schwister anneh­men. Unter dem Kreuz wird Geschwi­sterlichkeit möglich. In und mit der Gemeinde Jesu Chri­sti hat Gott die Geschichte der Geschwisterlichkeit in­mitten der brudermörderischen Weltgeschichte begon­nen.
Amen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.