Predigt

September 2009

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter

Lukas 10,25-37

25 Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? 26 Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? 27 Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5.Mose 6,5; 3.Mose 19,18). 28 Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.
29 Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? 30 Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen.
31 Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. 32 Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. 33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; 34 und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. 35 Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme.
36 Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? 37 Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!

Liebe Gemeinde!

auf einer Landstraße irgendwo. Es liegen herum Scherben, Radkappen, Blechteile. Am Rande liegt ein völlig zerbeultes Etwas, was wohl mal ein Auto einer bestimmten Marke gewesen sein mag. Ein blutüberströmter Mann winkt um Hilfe.
In diesem Bericht, den ich lese, heißt es: “In 12,5 Minuten fahren 14 PKW und 4 LKW vorüber, obwohl der Unfall nicht zu übersehen ist und der blutende Mann immer verzweifelter winkt … Die danach anhaltenden Fahrer wissen sich nicht zu helfen. Was hört man da? ‚Wo ist denn hier ein Arzt?‘ ‚ Oh Gott, ich kann kein Blut sehen.‘ Das erschütternde Ergebnis …: Von 150 vorbeikommenden Kraftfahrern verhält sich fast nur einer richtig.“ (RKZ 7/89, 205)

Zum Glück habe ich gerade nur eine Beschreibung eines Experimentes vorgetragen, bei dem die Hilfsbereitschaft von Autofahrern getestet wurde. Und wenn es nur ein Experiment ginge, könnten wir jetzt aufatmen. Aber wir wissen, auch wenn dieser Versuch nicht repräsentativ sein mag, hier wird ein Stück Realität beschrieben. Und dieser Gedanke bedrückt!

Wir wollen nicht urteilen über die 150 Autofahrer, die vorbeifahren. Schon aus Vorsicht: Denn wie würden wir reagieren?
Aber es ist deutlich: Auf den 150sten kommt es an, der dann tatsächlich hilft!

Genau darauf läuft das Gleichnis vom barmherzigen Samariter hinaus:
Es kommt darauf an, was du tust!
Und es kommt darauf an, was du tust!

Wenn wir auf das Gleichnis blicken, stellen wir eine Umkehrung der Fragestellung durch Jesus fest. Der Schriftgelehrte hatte gefragt: „Wer ist mein Nächster?“
Jesus aber antwortet am Ende, nachdem er das Beispiel vom Barmherzigen Samariter erzählt hat: „Wer ist dem, der unter die Räuber gefallen ist, der Nächste gewesen?“

Beide Male: Wer? Beide Male: Frage nach dem Nächsten.

Der Schriftgelehrte fragt allgemein nach Hilfsbedürftigen: wer könnte es beispielsweise sein?
Jesus aber fragt nach denen, die vorbeikommen, nach Priester, Levit, Samariter … nach den 150 Autofahrern

Der Nächste ist nicht „irgendjemand“.
Der Nächste ist der, der einem anderen zum Nächsten wird! In der konkreten Situation.
Der Nächste ist der Handelnde, nicht der, der behandelt wird!
Ich bin nicht der Nächste, wenn ich da liege, wenn ich Unfallopfer bin, wenn ich kranker Nachbar bin, wenn ich seelisch daneben bin, wenn ich in schwieriger Situation stecke. Sondern der mir hilft, ist mein Nächster. Er wird es dann in der konkreten Situation. Wenn ich mit dem Arbeitslosen zu den Stadtwerken gehe, um mit ihm seine Angelegenheiten zu regeln, wenn Gemeindeglied XY zu Herrn oder Frau YZ geht um einen Besuch zu machen oder konkret unter die Arme zu greifen …

Gehe hin, und tue desgleichen, sagt Jesus dem Schriftgelehrten: Du bist der Mann! Du bist der Nächste! Nicht der, der da liegt! Der ist ein Opfer! –

Warum dreht Jesus die Frage eigentlich um? Legitim ist es doch ganz sicher, zu fragen, wie es der Schriftgelehrte tut.
Ich denke, weil – wenn wir so fragen – wir der Liebe nicht gerecht werden können.
Die Frage, so gut sie gemeint ist, provoziert ja auch, dass wir bestimmte Menschen als „Nicht unsere Nächsten“ definieren! Die Frage: „Wer ist denn nicht mein Nächster?“, schwingt unausgesprochen mit.

Ich will mal provozieren:
Wer ist mein Nächster?
Ist es der Deutsche-West: Ja! Ist es der Deutsche-Ost? Na ja. Ist es der Aussiedler aus dem Osten? Na, solange er Deutsch spricht, ja. Ist es der Asylbewerber? Na, na … vielleicht.
Wer ist mein Nächster? Ist es der Großverdiener, der möglicherweise mein heimliches Vorbild ist mit seinem Haus und mit seinem Wagen? – Hinz und Kunz um die Ecke? – Der Nichtsesshafte mit seiner mangelnden Arbeitsmoral? –

Eine großartige Befreiungsgeschichte zur Liebe, ist diese Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter!
Keine Anklagegeschichte gegen den Schriftgelehrten, dem Jesus die Sünden vorhält: Du bist ja der Levit, Du bist ja der Priester!
Sondern: Jesus eröffnet hier eine große Chance, eine große Freiheit eben, aus den Grundsätzen und Prinzipien heraus zu kommen, aus Konventionen, Anpassung, aus theoretischen Vorstellungen, die sich verselbständigt haben, die wie eine Hülle den Menschen umgeben, die wie Mauern Menschen voneinander trennen.

Jesus gib Anlass, nach den eigenen Voraussetzungen zu fragen, die das Handeln – mein Handeln – bestimmen,
Er fordert auf, festzustellen, dass es Abhängigkeiten von meist nicht hinterfragten Meinungen und allgemeinen Ansichten und Denkweisen gibt.

Jesus eröffnet so einen neuen Umgang miteinander.
Er sagt: Nächstenliebe darf aus alle dem heraustreten!

Nächstenliebe darf aus alle dem heraustreten.
Nächstenliebe gelingt, wenn Schritte über eingefahrenes Denken und Verhaltensmuster hinaus möglich werden.

Das ist etwas, was prinzipiell jedem gelingen kann, so schwer der Schritt selbst auch sein mag: dem Priester, wie dem Levit wie den 150 Autofahrern, auch dem Samariter, auch dem Türken, selbst dem Gottlosen.

D.h. nicht, dass man sich auf jedes Hilfsabenteuer stürzen soll. Wäre es so, hätte Jesus die Geschichte nicht erzählen brauchen, sondern es hätte ihm der Satz genügt: Hilf dem, dem du helfen kannst! –

Fast scheint es nun so, als seine die, die weltanschaulich am wenigsten gebunden sind, für die Nächstenliebe am aufgeschlossensten sein müssten.
Aber das geht nun doch nicht aus dem Gleichnis hervor, dass da die „Betonköpfe“, also die kleinen und großen Kirchen- und andere Fürsten, die zur Liebe unfähigsten seien.
Jesus sagt dem Schriftgelehrten vielmehr: Wenn schon der, der – deiner Meinung nach – keine Ahnung von der Gottes- und der Nächstenliebe hat, so barmherzig sein kann, dann wirst du es doch erst recht können! Du hat es doch gerade selbst gesagt: Gott und Menschen lieben, darum geht`s! Also geh hin und tu desgleichen!

Jesus öffnet dem Schriftgelehrten die Augen und vielleicht auch das Herz. Er eröffnet ihm sein totes Wissen über die Gottes- und die Nächstenliebe als eine wirklichkeitsrelevante Theorie. Er will ihn zum „Samariter“ befreien. –

Und das muss hinzugefügt werden, Jesus ist selbst zum Vorbild geworden. Er hat das Gesetz (des Schriftgelehrten), die Thora, nicht aufgehoben. Er hat nicht gesagt: Deine Theorie ist falsch. Sondern Jesus hat die Menschen geliebt und sich als ihr Samariter aufgeopfert, ohne danach zu fragen, für wen er das eigentlich tut.

Darin hat er mehr erreicht, als alle menschlichen Samariter erreichen können. Er hat die Unfähigkeiten aller menschlichen Samariter mit allem anderen mit ans Kreuz genommen.

Und er wird uns immer wieder zum Nächsten, weil er lebt. Er sucht uns auf und findet uns, weil er auferstanden ist und lebt. Er ist unser Maßstab, nicht all das, was in unseren Köpfen an Konventionen und Meinungen herum spukt. Und so dürfen wir uns immer wieder von ihm befreien lassen zum Handeln in konkreten Situationen.

Schluss 1
Liebe Gemeinde, wir müssen Abschied nehmen von der Vorstellung, Jesus erzähle eine harmlose Geschichte nach dem Motto, die kennen wir schon! Da kommt zuerst ein Pfarrer, dann ein Lehrer – und wir wissen es, der Türke wird es sein. Da kommt ein Unternehmer, dann ein Rechtsanwalt – und wir wissen, es wird der Penner sein.
Und dann haben wir alle ein schlechtes Gewissen, weil wir eben nicht wie der Türke oder wie der Penner gehandelt haben. Das alles ist Romantik und hat mit der Gleichniserzählung Jesu nur bedingt etwas zu tun.

Schluss 2
„Gehe hin und tu desgleichen!“ Darauf läuft das Ganze hinaus. Damit endet der Predigtabschnitt.
Begonnen hatte er ganz anders.
Nicht: mit der Frage nach dem Nächsten!
Nicht: mit der Frage nach dem größten Gebot! – So ist es bei Matthäus und Markus.
Sondern mit der Frage: „Meister, was muss ich tun, dass ich das Ewige Leben ererbe?“
Um nichts Geringeres geht es dem Schriftgelehrten.
Und die Antwort gibt er sich selbst:, „Du sollst Gott und den Nächsten lieben, sagt die Schrift.“
Und Jesus sagt: „Dann tu das, so wirst du leben!“ (V.28b)
Amen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.