Predigt

Sommer 2009

„Seid barmmherzig!“

Lukas 6,36-42

36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. 37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. 38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn beben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen.

39 Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen? 40 Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn er vollkommen ist, so ist er wie sein Meister.

41 Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? 42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!

1.

Sabés que es lo mas lindo de estar enamorado?
Estar enamorado de vos!

Liebe Gemeinde, ein kleiner weißer Pandabär mit rosa Blumen in den Pfoten und einer rosa Perlenkette auf dem Kopf, auf dunklem ovalem rosa Läufer sitzend mit rosa Herzchen umgeben blickt mich mit verliebten Augen von einem 5 X 6,5 Zentimeter kleinen Kärtchen an.

Auf diesem Kärtchen stehen diese beiden spanischen Sätze.
Übersetzt heißen sie: „Weißt Du, dass es sehr schön ist, verliebt zu sein? Verliebt zu sein in Dich!“

Ich habe dieses Kärtchen aus einem Vorstadtzug vor der südamerikanischen Riesenmetropole Buenos Aires.
Wir saßen schwitzend bei zugig offenen Fenstern auf blanken Metallbänken ohne jegliche Polsterung. Die einzigen Europäer. Umgeben von ca. 30 Menschen im gut gefüllten Abteil, die irgendwie südeuropäisch wirkten, manche auch indigen.

Das Kärtchen hatte mir ein junger Mann auf mein Knie gelegt, nicht nur mir eins, sondern auch meiner Frau eins und meinem Sohn eins und den meisten anderen im Abteil auch. Blitzschnell war das gegangen. Durch’s Abteil auf der einen Seite hin, auf der anderen Seite zurück. Dabei sah der Mann nicht nach schnellem Huschen aus. Einen Buckel hatte er und konnte wohl auch nicht richtig sehen.
Genauso schnell sammelte er die Kärtchen auch wieder ein. Doch der ein oder andere gab ihm ein paar Pesos und konnte dafür das Kärtchen behalten.
Mein Sohn kaufte auch eins. Ich wollte es wieder abgeben. Aber bei mir ließ er es liegen. Und so habe ich es heute noch – allerdings mit schlechtem Gewissen, weil ich ihm ja keine Pesos gegeben habe.

Auch gegenüber auf der Bank die Mutter mit ihrer halbwüchsigen Tochter nahm ein Bildchen. Es wunderte mich nicht. Sie hatte ja schon am Anfang unserer Zugfahrt das Gebäck gekauft, das im diesem Zugabteil feilgeboten worden war. Sie hatte auch in die Hand des blinden (Bob Dylan gleichenden) Gitarristen, Mundharmonikaspielers und Sängers, etwas Geld eingelegt. Sie hatte auch eine Kunststoff-C-Flöte in klarer Plastiktüte gekauft und ohne sie sich anzugucken, ja ohne sie eines Blickes zu würdigen in ihre große Tasche gesteckt.
So waren in 1 ½ Stunden Zugfahrt mehr als 30 Verkäufer und Dienstleister mit den unterschiedlichsten Geschäftsideen ins Abteil gekommen. Der eine verkaufte wieder Gebäck, ein anderer verpackte Süßigkeiten, wiederum ein anderer etwas zu Trinken, einer, der mit einem lauten CD-Player auf den Schultern das Abteil für kurze Zeit mit Rockmusik beschallte, CDs, ein Kreuzworträtselheftverkäufer mit drei Heften und Bleistift …

Und das Unvorstellbare: Alle hatten Erfolg! Alle verkauften etwas. Ich errechnete, dass sie immer mindestens etwa 10 % der Anwesenden als Kunden erwarten konnten. Kein schlechter Schnitt! Welche Reklamewurfsendung bei uns hat wohl solchen Erfolg?

Und ganz besonders das fiel mir auf: die Kaufenden hatten eigentlich kein wirkliches Interesse an den Dingen, die sie kauften. Die Frau wollte bestimmt nicht C-Flöte spielen. Ob sie überhaupt Hunger hatte?
Gewiss manche kauften Ess- oder Trinkbares, wie auch wir hier bei uns auf dem Bahnsteig, in der Unterführung oder eben im Abteil gerne einen Kaffee oder Brezel kaufen.
Aber hier schwang doch etwas ganz anderes mit.

Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Das war es: Sie waren offenbar solidarisch mit den Verkäufern. Sie kauften, um den Verkäufern etwas zum Verdienen zu geben. Sie wussten, dass die es bitter nötig hatten, mit ein paar Pesos nach Hause zu kommen. Da wartet die Familie, die Frau, die Kinder, die Großeltern … Und wenn sie nichts verkauft haben würden, dann hätte es auch zu Hause nichts zu essen gegeben.
Die da im Abteil saßen, wussten, warum die Verkäufer versuchten, wenigstens ein bisschen Geld zu kommen. Sie wussten den Versuch zu würdigen, dass hier sogar mancher Familienvater seinen letzten Stolz aufgibt, um auf ehrliche Weise sein Geld zu verdienen.

Die im Abteil saßen und kauften, erklärten sich mit ihrem Kauf solidarisch den Verkaufenden. Sie waren nicht überheblich. Sie fühlten sich auch nicht als etwas Besseres. Keiner rümpfte die Nase. Keiner lachte. Keiner mokierte sich. Keiner machte abfällige Bemerkungen! –

Soweit das Erlebnis.

Dieses Erlebnis fällt mir immer ein, wenn es um den Bibelvers geht: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!“

Und ich frage mich heute: Hatten die Leute da im Zugabteil etwas von der „Barmherzigkeit“, von der Jesus in unserem Predigttext spricht?: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“

Ich frage mich, ob das, was ich da in der Ferne erlebt habe, nicht tatsächlich eine Auslegung dieses Wortes Jesu ist.

2.

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“

Dieser erste Satz steht wie eine Überschrift über den Bibelversen des Predigttextes.

Wir gehen einmal durch, was Jesus sich darunter vorstellte.

V. 37 „Richtet nicht!“
Barmherzigkeit verträgt sich nicht mit einem Richtergedanken, mit dem andere verurteilt werden, mit dem über Menschen der Stab gebrochen wird, sie in eine Schublade gesteckt werden, womit man ihnen nicht gerecht wird.
Und sollte da tatsächlich etwas sein, was verurteilt werden muss, so wagt die Barmherzigkeit Vergebung und vergilt nicht. Der Kreislauf gegenseitigen Richtens, Verurteilens und Vergeltens wird durch barmherziges Tun der Vergebung durchbrochen.
Gingen die Menschen im Zug so mit den Verkäufern um?

V.38 „Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben.“
Jesus fordert keine Übermenschen; er weist darauf hin, dass die Kraft zu solcher Haltung und solchem Tun von Gott kommt. Geschenkt bekommt sie, wer sich von Gott beschenken lässt. Ja im Übermaß sogar. Mehr als zu erwarten wäre.
„Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben.“
Ich nehme als Beispiel unsere Kaffeedose zuhause: 500 Gramm Kaffee passen nur dann hinein, wenn man die Dose ein paar Mal rüttelt und auf die Tischplatte aufstößt. Aber dann geht es. Es passt deutlich mehr in die Dose – die ganzen 500 Gramm.
Und hier spricht Jesus davon, dass unsere Gefäße der Barmherzigkeit, das sind ja wohl unsere Herzen, sogar überlaufen, wenn Gott Barmherzigkeit in sie hineinlegt!

V. 39 „Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen?“
Alle Menschen sind auf Barmherzigkeit angewiesen, auch wenn sie oft blind dafür sind und es nicht wahr haben wollen. Solche Blindheit kann verheerende Folgen haben, wenn sie nämlich auf eine Grube zugehen …

Alle sind auf Sehende angewiesen! Auf die Christinnen und Christen, die wenigstens etwas Barmherzigkeit in ihren Herzen tragen und zu ihrer Ausübung befähigt sind.
Die Christinnen und Christen, sie haben einen Meister, einen vorbildlichen Ausbilder, dem sie allerdings kaum gleich werden.
Einer ist Euer Meister, sagt das Neue Testament.

Doch soweit sind sie meistens nicht. V. 41+42 Das Wort vom Splitter und dem Balken in den Augen besagt das.
Immer noch und immer wieder sind sie selbst die Blinden, die wohl meinen, einen Splitter aus des anderen Auge ziehen zu können, während sie selbst aber noch Balken vor den Augen tragen.

3.

Liebe Gemeinde, was ist das Wesen der Barmherzigkeit? Manchmal ist es ja hilfreich, sich einfach die Wortbedeutung klar zu machen.

Wir lassen das „B“ einfach einmal weg. Im Althochdeutschen verstärkte es die Vorsilbe, die dann „arm“ heißt. „Barmherzigkeit“ ist also eigentlich „Armherzigkeit“.

Armherzig ist der Mensch aber nicht, wenn er kleinlich, eng- oder hartherzig oder gefühlsarm gegen andere ist, in diesem Sinne ein „ärmliches“, an Empfindungen minderwertig ausgestattetes Herz hat.

Ganz im Gegenteil!
Wir haben soeben den Bericht des Johannesevangeliums über die Fußwaschung durch Jesus gehört. Er veranschaulicht sehr schön, was mit „Arm-Herzigkeit“ gemeint sein kann.

Das nämlich: Jesus beugt sich herab; er öffnet sein Herz; er lässt es überfließen; er ist im Herzen bewegt (griech: oiktirmon statt eleos) und er handelt danach.
Die Jünger geben den Kontrast dazu, insb. Petrus: sie wollen die Fußwaschung nicht zulassen. Sie haben ein reiches Herz, reich an Stolz. Und so passt ihnen überhaupt nicht, was Jesus tut. Es passt nicht zu seiner Hoheit.

Liebe Gemeinde! Das ist Arm-Herzigkeit: den anderen die Füße waschen, den Stolz des Herzens in Demut verwandeln, das eigene Herz arm, nämlich arm an Selbstbehauptung und Eitelkeit, werden lassen, das eigene Ich kleiner werden lassen – um des anderen willen.

„So wie auch euer Vater barmherzig ist.“ Gott ist sich auch nicht zu schade, für uns väterlich und mütterlich zu sorgen. Ja, er hat sogar seine aufopfernde Liebe an uns erwiesen, indem er seinen Sohn hingab.

Also das ist Arm-Herzigkeit: Sich selbst loszulassen und Gott und Jesus in ihrer Hinwendung zum Menschen nachzufolgen.

Es gibt wohl keinen anderen und keinen besseren und treffenderen Ausdruck für das, was hier der Predigttext meint, als den, den das Christentum hervorgebracht hat und den Martin Luther in seiner Bibelübersetzung schon ganz so wie wir heute in der Kirche gebrauchte: Barmherzigkeit.

Noch einmal zurück:
Im Zug: ich weiß nicht, ob da im Abteil Christ*innen saßen. Immerhin hielten wir uns ja in einem katholisch geprägtes Land auf. Aber vielleicht war es einfach nur menschliche Rührung und vor allem Solidarität. Doch Armherzigkeit war hier ganz gewiss i Spiel, kein Stolz, sondern einfach das Herz sprechen lassen.

4.

Ich habe das Eisenbahnbeispiel so ausführlich erzählt, weil es bei uns ganz andersartig zugeht. Manchmal braucht man den Kontrast. Selbsterkenntnis.

Barmherzigkeit ist der Gegenentwurf zu dem, was wir heute vielfach gesellschaftlich erleben.
Eine Gesellschaft, die einen Wohlstand geschaffen hat, der in der Geschichte beispiellos ist …
Eine Gesellschaft, die von der sozialen Absicherung her, ganz andere Möglichkeiten als die Lateinamerikanische besitzt, sozial Schwächeren zu helfen …
… produziert eigenartigerweise immer mehr Menschen, die sich auf’s Fordern verlegen – vom Staat, von öffentlichen Kassen, von der Politik, vom Nachbarn, vom „denen da“, die etwas tun müssen …
… produziert immer mehr Menschen, die ihre persönliche Bereicherung mit Rücksichtslosigkeit betreiben.

Ich will jetzt nicht in pauschale Verunglimpfungen abgleiten. So etwas gehört nirgendwo hin, schon einmal gar nicht in eine Predigt.
Aber dass sich unsere Gesellschaft verändert hat hin
zu einem Zuerst-komme-ich und meine Bedürfnisse,
zu einem Eigennutz, der den persönlichen Zielen alles unterordnet
zu einer ganz selbstverständlichen Selbstgerechtigkeit von immer mehr Menschen
zu einer nicht mehr hinterfragbaren Sich-bedienen-lassen-Mentalität
zur Deklaration von Lebensqualität, die sich im Wesentlichen in Zur-Schau-Stellung des eigenen Ego erschöpft
das finde ich schon unverkennbar. Dass sich Menschen dann zunehmend gegen einander verhärten, ist logische Folge.

Also: zumindest so weit müssen wir gehen: wenn wir von Barmherzigkeit sprechen, kommt auch sogleich unsere Gesellschaft auf den Prüfstand.
Und wir mit ihr; denn auf die Gefahr, den Splitter im Auge anderer zu sehen, ohne den eigenen Balken zu bemerken, auf die Gefahr solchen Hochmutes und Grundes von Hartherzigkeit, weist Jesus ja ausdrücklich hin.

5.

Erkennbar wird die Barmherzigkeit an ihren Werken. Wir haben sicher alle schon von den sog. sieben Werken der Barmherzigkeit gehört. Sie sind eine schöne praktische Hilfe.

1. Hungrige speisen
2. Durstige tränken
3. Fremde beherbergen
4. Nackte kleiden
5. Kranke pflegen
6. Gefangene besuchen
7. Tote bestatten

Viele haben es versucht: manche mönchische Bewegung im Mittelalter; vor allem die Begründer der großen Diakoniewerke sind uns bekannt: Bodelschwingh aus Bethel, Fliedner aus Kaiserswerth, Schweitzer wegen seines Engagements in Afrika, in Lambarene.

Es gibt da unterschiedliche Traditionen, was zu den Werken gezählt wird (ev / rk). Aber das spielt auch keine Rolle. Eine solche Aufzählung kann ja nicht mehr, als ein paar grundlegende Situationen beispielhaft aufführen.

Wichtiger ist der Satz Jesu aus der sog. „Endzeitrede“:
„Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!“ sagt Jesus. (Mt 25,34-46), weil hier auch deutlich wird, was ich ausgeführt habe, dass Barmherzigkeit eine grundsätzliche menschliche Haltung ist. Sie kommt grundsätzlich im Verhalten zum Tragen, nicht nur in einzelnen hervorgehobenen Situationen.

Hier im Neuen Testament wird die christliche Tradition der Barmherzigkeit begründet! Und die macht die Pointe des christlichen Lebens aus: Wer barmherzig handelt, der erst vollendet die Liebe Gottes durch das eigene selbstlose Tun!

Wenn wir über die Barmherzigkeit sprechen, dann reden wir nicht einfach vom Almosengeben. Dann reden wir nicht einfach über die Arbeit der Diakonie. Dann sprechen wir über das Wesen der Haltung derer, die sich Christ*innen nennen.

Und so wurde das Wort „Barmherzigkeit“ – nicht zuletzt durch die Bibelübersetzung Luthers – ein christliches Geschenk an die deutsche Sprache. Das typische Kirchenwort mag außerhalb der Kirche im Sprachgebrauch nur noch selten vorkommen; doch es ehrt uns, wenn wir an ihm festhalten!

Zum Schluss kehre ich an den Anfang zurück ‚Ich frage mich, ob uns die Menschen aus dem lateinamerikanischen Vorstadtzug nicht doch etwas zu sagen haben?
Barmherzigkeit – was ist das?
Lassen wir uns mit einem überlaufenden, gerüttelten Maß beschenken und versuchen wir`s doch einfach damit …

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.