Predigt
Advent 2017
Das Buch mit den sieben Siegeln
Offenbarung des Johannes 5,1-14
1 Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln.
2 Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?
3 Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun noch es sehen.
4 Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen.
5 Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel.
6 Und ich sah mitten zwischen dem Thron und den vier Wesen und mitten unter den Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet; es hatte sieben Hörner und sieben Augen, das sind die sieben Geister Gottes, gesandt in alle Lande.
7 Und es kam und nahm das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß.
8 Und als es das Buch nahm, da fielen die vier Wesen und die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem Lamm, und ein jeder hatte eine Harfe und goldene Schalen voll Räucherwerk, das sind die Gebete der Heiligen,
9 und sie sangen ein neues Lied: Du bist würdig, zu nehmen das Buch und aufzutun seine Siegel; denn du bist geschlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen
10 und hast sie unserm Gott zu einem Königreich und zu Priestern gemacht, und sie werden herrschen auf Erden.
11 Und ich sah, und ich hörte eine Stimme vieler Engel um den Thron und um die Wesen und um die Ältesten her, und ihre Zahl war zehntausendmal zehntausend und vieltausendmal tausend;
12 die sprachen mit großer Stimme: Das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob.
13 Und jedes Geschöpf, das im Himmel ist und auf Erden und unter der Erde und auf dem Meer und alles, was darin ist, hörte ich sagen: Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit!
14 Und die vier Wesen sprachen: Amen! Und die Ältesten fielen nieder und beteten an.
Liebe Gemeinde!
die Geschichte dieser Welt, in der wir in einem kleinen, ja winzigen Zeitfenster, an einem Ort, den wir uns nicht aussuchen konnten, leben, ist – jedenfalls für mich – ein Buch mit sieben Siegeln, rätselhaft, undurchschaubar. Reiche blühen auf. Reiche vergehen. Die Babylonier, die Griechen, die Römer, die ganze Geschichte des Abendlandes mit ihren unterschiedlichen Kräften, dem Papsttum, der weltlichen Herrscher, den so unterschiedlichen Bedingungen, unter denen Menschen zu leben hatten und haben. Die Geschichte auf anderen Kontinenten, die in unserem früheren Geschichtsunterricht kaum eine Rolle spielten, kommt heute immer mehr ins Bewusstsein.
Und dazu gehört dann natürlich auch die Frage, was denn noch kommen wird? Vergegenwärtigen wir uns nur die letzten 500 Jahre nach Martin Luther und rechnen diese mal hoch: wie wird die Welt in 500 Jahren aussehen? Das kann sich heute keiner vorstellen. Wie auch, wenn doch die Entwicklungen offenbar immer schneller mit uns und wohl auch über uns dahin rasen?
Macht uns das Sorgen? Vielleicht nicht so unmittelbar. Aber wenn wir genauer nachdenken, wird uns wohl zumindest eine gewisse Unruhe überkommen. Vor allem, wenn wir an unsere Kinder und Enkel denken. Die Welt ist auch heute noch fragil. Wir sehen ja, wie Länder, Kontinente im Aufbruch sind …
Das haben die Menschen, liebe Gemeinde, denen der Seher Johannes schreibt, ganz stark empfunden, dieses Hineingeworfensein in die große Geschichte. Es war für sie nicht nur eine intellektuelle Frage, es war eine starke existentielle Erfahrung, die in ihnen wirkte. Sie litten als Christen unter Verfolgungen. Nicht das ersehnte Heil Gottes erlebten sie, sondern Ausgrenzung, Gewalt und Willkür.
Und so wird es weitergehen, war ihnen klar. Kein Ende in Sicht! Die Zukunft lag vor ihnen wie ein Buch mit sieben Siegeln. Und wenn wir wissen, dass die Zahl Sieben die ‚Zahl der Vollkommenheit‘ ist, können wir ermessen, was hier zum Ausdruck kommt; die weitere Weltgeschichte blieb dem inneren Auge und dem tiefsten Nachdenken verborgen und Gott, dem sie vertrauten, rätselhaft und unbegreiflich.
„Das Buch mit den sieben Siegeln“ steht sinnbildlich für diese Zukunft. Es handelt sich eigentlich um eine Schriftrolle, denn ein Buch mit vielen Seiten kannte man damals noch nicht. Diese Schriftrolle ist auf beiden Seiten vollgeschrieben – “innen und außen“, wie es heißt -, und da wird die gesamte Weltgeschichte erzählt. Johannes sieht, wie der himmlische Vater auf einem Thron sitzt und diese Schriftrolle (und damit die ganze Weltgeschichte) in seiner rechten Hand hält. Niemand weiß, was da aufgeschrieben ist, und niemand kann deuten, wie das alles zusammenhängt und warum alles so und nicht anders geschieht. Die Schriftrolle ist ja zusammengerollt und mit sieben Siegeln verschlossen.“ (M. Krieser) Was steht darin? Was hat Gott vor?
Und so steht der Seher Johannes selbst für die angefochtenen Menschen. Er ist traurig. Er weint! Die Geschichte, das Buch mit sieben Segen bleibt verschlossen. Wohl für immer. Da ist niemand, der die Siegel brechen kann, niemand der hineinsehen kann.
Selbst der starke Engel kann nur die Frage stellen. Johannes hört einen mächtigen Engel mit lauter Stimme fragen: „Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?“ Aber da findet sich niemand; die Weltgeschichte bleibt verborgen.
Doch dann hört Johannes auf einmal in seiner Sorge und Traurigkeit eine Stimme, die ihn beruhigt: es gibt doch einen, der die Siegel öffnen kann, der weiß, wie die Zukunft sein wird, der die Weltgeschichte und die Zukunft entschlüsseln kann, nämlich „der Löwe aus Davids Stamm“. „Jemand sagt zu Johannes: ‚Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel.“ Mächtig ist er und wird darum „Löwe“ genannt: „der Löwe aus dem Stamm Juda“ (1. Mose 49,9‑10). Der sterbende Stammvater Israel hatte vor langer Zeit über seinen Sohn Juda folgendes Segenswort gesprochen: „Juda ist ein junger Löwe… Es wird das Zepter von Juda nicht weichen noch der Stab des Herrschers von seinen Füßen, bis dass der Held komme, und ihm werden die Völker anhangen.“
Dieser Löwenheld allein ist würdig, das Buch der Zukunft aufzurollen. Innerhalb des Stammes Juda kommt er aus der Königsfamilie Davids, darum wird er auch „die Wurzel Davids“ genannt, oder besser: ein Spross aus dieser Wurzel. Er ist der verheißene Davidssohn, der nach den Weissagungen vieler Propheten Frieden bringen und ewig regieren wird. Wirklich eine würdige Person zum Öffnen der sieben Siegel!“ Hier fallen die Stichworte, warum dieser Bibeltext uns heute am 1. Advent beschäftigt. Wer dieser Löwe ist, ist uns schon sicher klar, wenn wir von „Davids Stamm“, nicht der „Wurzel Jesse“, aber doch von der „Wurzel Davids“ hören jetzt in der Adventzeit.
Ganz im Gegensatz allerdings zu dem, was Johannes vom starken Löwe hört, sieht er jetzt: keine mächtige Raubkatze, sondern ein Lamm. Noch eigenartiger ist es, dass an dessen Hals die Schnittwunde von der Schächtung deutlich sichtbar ist, und es trotzdem lebt.
Ein Opferlämmchen, klein, schwach, dem Messer des Schlächters ausgeliefert – das ist der „Löwe aus Judas Stamm“, das ist der mächtige Davidssohn. Von Gemälden, vom Ruf „Christe du Lamm Gottes“ beim Abendmahl, aus dem Johannesevangelium wissen wir, das Jesus das “Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt” (Johannes 1,29) ist. Der Seher Johannes schaut Jesus mit dem, was er für die Welt, für uns Menschen getan hat – den Gekreuzigten und Auferstandenen – in der Einheit mit dem thronenden Vater! Das ist schon ein unerhörtes Bild, wenn wir bedenken, dass sowohl im Judentum als auch im Christentum Gottesbilder aus gutem Grund verboten sind.
Merkwürdig das Aussehen des Lammes: Johannes sieht, dass es sieben Hörner hat. Das Horn ist das Symbol der Macht. Das Lamm ist keineswegs so harmlos, sondern eben doch mächtig. Wieder taucht hier wie noch häufiger in der Johannesapokalyse die Sieben auf. Wieder ist sie die Zahl der Vollkommenheit. Also das, was Jesus vollmächtig getan hat, ist vollkommen. Er hat die Welt erlöst von ihren Leiden und Übeln, von dem, was die Menschen, denen Johannes schreibt, erleiden, was sie durchstehen, sich gefallen lassen, erdulden, verwinden, hinnehmen müssen. Vollständig.
„Ebenso sieht Johannes sieben Augen am Lamm – sieben wieder als Zahl der Vollkommenheit und das Auge als Symbol der Einsicht, Weitsicht und Weisheit. „Sieben Geister Gottes“ werden diese Augen genannt, wiewohl es doch nur einen Heiligen Geist gibt. Gemeint ist hier die Fülle der Geistesgaben, so wie sie der Prophet Jesaja bereits vom Spross aus Davids Wurzel vorausgesagt hat: ‚Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn‘ (Jes. 11,2).“ (M. Krieser)
Wir müssen uns in die Situation der ersten Leser hineinversetzen, um zu ermessen, was Johannes ihnen und auch uns damit sagt: Jesus lebt. Er ist keineswegs tot, auch wenn Euch das in Eurer Situation so erscheinen mag. Auch wenn Ihr jetzt ertragen und erdulden müsst und die Geschichte so rätselhaft ist und sich gar nichts wendet oder zu wenden scheint. Tröstet Euch damit, er hat die Wende schon herbeigeführt, dass sich alles für Euch wenden wird, und er hat die Weisheit und den Verstand und die nötige Erkenntnis des Willens Gottes für Eure Zukunft.
Nun aber geschieht das letzte Entscheidende. Das Gotteslamm nimmt die Schriftrolle aus der Hand seines Vaters. „Und dann erlebt Johannes ein großes Gotteslob wie in einer Kettenreaktion. Der eine Gott und das eine Lamm werden angebetet – zuerst von vier merkwürdigen Gestalten, die viele Bibelausleger mit den vier Evangelisten gleichsetzen; dann von vierundzwanzig ‚Ältesten‘, die die zwölf Stammväter Israels für den alten Bund repräsentieren sowie die zwölf Apostel für den neuen Bund; dann von Millionen von Engeln; schließlich von allen Geschöpfen. Sie beten an und bekennen dem Gotteslamm: ‚Du bist würdig, zu nehmen das Buch und aufzutun seine Siegel; denn du bist geschlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen…‘ Auch rufen sie: ‚Das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob.‘ Und schließlich hallt es in der ganzen Schöpfung wider: ‚Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit.’“
Nun wird das Lamm die Siegel aufbrechen. Und in den nächsten Kapiteln der Johannesapolalypse lesen wir davon. Was es auf sich hat mit der Weltgeschichte. Dass die alte Welt mit ihren Schrecken zu Ende geht. Dass sich allenfalls in dem Entsetzlichen der Zeit die Geburtswehen der neuen Welt zeigen. Das die Reiche, die sich so mächtig geben, zerbrechen werden. Dass Gott die Anmaßung richtet. Wir sehen hier rechts – von Ihnen aus links – in den Fenstern unserer Johanneskirche Darstellungen, die diesen Kapiteln entnommen sind.
Und am Ende stehen die Beschreibungen, die wir vom Ende dieses Johannesbuches (Kap. 21) gerne zitieren:
Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr.
2 Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann.
3 Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein;
4 und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.
5 Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss!
6 Und er sprach zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.
7 Wer überwindet, der wird dies ererben, und ich werde sein Gott sein und er wird mein Sohn sein.
Liebe Gemeinde, es mag für uns eine sehr fremde Vorstellungswelt sein, die wir mit der Johannesapokalypse vorgestellt bekommen. Im Bibelgesprächskreis haben wir das vor einiger Zeit festgestellt. Wir werden auch nicht mit allem klarkommen und alles verstehen, was wir da lesen. Aber ich denke, wir werden verstehen, warum einmal ein Pastor, der ein Heft über sie geschrieben hat, dieses Heft überschrieben hat „Das Trostbüchlein der Kirche“.
Es sind die tiefsten Sorgen um die Gegenwart und um die Zukunft, denen der Seher Johannes inspiriert entgegentritt und auf seine Weise versucht, den Trost des Evangeliums zu predigen – in eine ganz prekäre Situation – und auch in unsere Zeit hinein, dann, wenn wir sie als prekäre Verhältnisse erleben.
Wir können uns trösten lassen, wie Johannes getröstet wurde und es seinen Gemeinden weitergibt. Niemand kennt den weiteren Lebensweg und die Zukunft der Weltgeschichte; niemand kann letztlich verstehen, warum alles gerade so und nicht anders kommt – niemand außer einem: dem Löwen, der als Lämmlein sterben musste und auferstanden ist und der die Siegel von Gottes Zukunftsbuch bricht – das Buch, das wir hier oben links – von Ihnen aus rechts im Fenster sehen und dem das himmlische Jerusalem im Fensterbild folgt. Wir wollen ihm vertrauen.
Advent heißt Ankunft, und die Adventszeit stellt uns die Frage: Was wird denn bei uns ankommen; was kommt auf uns zu? Jetzt können wir antworten: Wir wissen nicht, was noch alles auf uns zukommt auf unserem Lebensweg, aber wir wissen, wer auf uns zukommt! Nämlich der, der einst gekommen ist, um sich als Gotteslamm für unsere Sünden töten zu lassen, und der, der heute mit uns durchs Leben geht: der ist der, dessen Geburt wir zu Weihnachten feiern, die Geburt des Löwen aus Davids Stamm.
Amen.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.







