Predigt

Herbst 2014

Die Zehn Gebote

2. Mose 20,1-17

1Und Gott redete alle diese Worte:
2 Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.
3 Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
4 Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist:
5 Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen,
6 aber Barmherzigkeit erweist an vielen tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.
7 Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der HERR wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.
8 Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest.
9 Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun.
10 Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt.
11 Denn in sechs Tagen hat der HERR Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der HERR den Sabbattag und heiligte ihn.
12 Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird.
13 Du sollst nicht töten.
14 Du sollst nicht ehebrechen.
15 Du sollst nicht stehlen.
16 Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
17 Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat.

Liebe Gemeinde

1)
wenn wir unterschiedliche Bibeltexte gewichten wollten, welcher wäre der wichtigste von allen? Ich denke, dass es diese Zehn Gebote sind.
• Sie haben Bedeutung natürlich für das Judentum; sie sind ja ein jüdischer Text.
• Sie haben Bedeutung für das Christentum.
• Sie haben aber auch Bedeutung für viele, viele Menschen über diese Religionen hinaus. Ihre Grundzüge sind ethischer Maßstab in Verfassungen und Verlautbarungen. Ja, sie sind ein Text für die Welt: sogar in die Charta der Vereinten Nationen sind sie eingegangen.
• Und noch etwas kommt hinzu. Die Zehn Gebote sind ein Text für Menschen, die nicht lesen und schreiben können. Schon während der Zeit des Alten Testamentes, als man die Kinder lehrte, die Grundregeln des Lebens an den zehn Fingern abzuzählen, wussten die Kinder: wenn man beim zehnten Finger angekommen ist, alles, tatsächlich alles aufgezählt, was ein Mensch im Zusammenleben mit anderen Menschen benötigt. Und er muss nicht weiter überlegen. – Man vergleiche die Flut an Gesetzen, die wir heute meinen zu benötigen.

Diese Hinweise umschließen alle Menschen, die zwischen Analphabetismus und wohlformulierten Texten leben. Für alle ist hier alles, was wir brauchen, um leben zu können, gegeben: Gott die Ehre geben und das Leben des Mitmenschen achten und ehren und nicht zerstören. Oder wie Jesus es ausgedrückt hat – und das geht streng genommen sogar noch darüber hinaus: Du sollst Gott lieben und Deinen Nächsten wie dich selbst.

Die Zehn Gebote sind die Grundlage, auf der wir stehen.
In ihnen ist formuliert, was Menschen für ihr Leben wissen können,
und was wir als Christ*innen im Glauben wissen:
Gott hat seine Welt nicht in Unkenntnis gelassen
über die grundlegende Weisung
zum Leben, zur Freiheit und zur Verantwortung der Menschen.

2)
Bekanntlich hat Mose die Gebote auf zwei Steintafeln vom Berg Sinai mitgebracht. Wir ordnen die Gebote den beiden Tafeln meist zu, auf der einen stehen die „Gottesgebote“, also die, die sich auf das Verhältnis von Menschen zu Gott beziehen. Und auf der anderen stehen die sogenannten „Menschengebote“. Sie beziehen sich auf das Verhältnis der Menschen untereinander. Eine solche Zuordnung ist in der Bibel aber nirgends belegt.

Die Hochachtung vor der Größe der Gebote ergibt sich schon allein aus einer Selbstevidenz der Gebote der „zweiten“ Steintafel.

Du sollst Vater und Mutter ehren.
Du sollst nicht morden.
Du sollst Deinem Nächsten kein falsches Zeugnis ausstellen, nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten
Du sollst nicht begehren.

Alle diese Gebote beziehen sich darauf, das Lebensrecht des anderen, den Mitmenschen zu achten. Sie sprechen für sich selbst.

Was würde es im politischen Leben, in unserem Land, Parteien, Gewerkschaften, Firmen, Familien, ja auch in unseren Kirchen bedeuten, wenn wir alleine ernst nähmen: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

Oder: Du sollst nicht töten. Wie oft töten wir mit Blicken, töten mit Worten etwas in unserm Gegenüber ab, dass er nicht mehr antwortet. Wir sprechen ja auch bei manchen drastischen abqualifizierenden Worten von „Totschlägerargumenten“, die jede weitere Diskussion im Keim ersticken und unterbinden. Über das physische Töten muss ich hier gar nicht sprechen.

Wie wäre es um unsere Gesellschaft bestellt, wenn wir ernst nehmen würden, unser Begehren nach dem, was der andere hat und tut, zurückzustellen?

Oder wie kämen wir zwischen den Generationen in ein gutes Gespräch, wenn wir verstünden, wie uns das Elterngebot heute zur Generationengerechtigkeit aufruft?

Es gibt Menschen, die stört das „Du sollst nicht“. Das klinge autoritär, nach Verboten. Ich lasse mir doch nichts verbieten!
Und warum sollte ich nicht dies oder das tun, wenn es mir der andere auch antut. Wenn er Falsches über mich verbreitet, dann tue ich das auch. Wenn er mir etwas antut, dann ich ihm auch.
Aber wenn man so formuliert, spürt man wohl die Selbstevidenz der Gebote: so kann unmöglich ein Miteinander von Menschen, das diese Bezeichnung verdient, gelingen.

Ich möchte manchmal sagen: Es könnte im Leben alles so einfach sein. Diese Gebote sprechen kaum mehr aus, was sich logischerweise ergeben muss, wenn wir über menschliches Zusammenleben nachdenken, das von einer egoistischen Herrschaft der einen über die anderen absieht.
Und doch wissen wir aus hundert- aus tausendfachen Erfahrungen, wie diese Gebote ins Zentrum unseres täglichen Lebens treffen, weil kein Tag vergeht, an dem nicht unendliche Male gegen die Gebote verstoßen wird – auch durch uns selbst.

Ein Utopia?

Wir werden durch die Gebote darauf hingewiesen, dass Zusammenleben in einem schützenden und humanen Sinn kein Utopia bleiben muss – obwohl wir es uns eigentlich selbst sagen könnten. Es ist Dir gesagt, Mensch: Sieh den anderen in seinem Recht: Übe Achtung, übe Zuwendung, übe Liebe!

3)
Die ganze Größe und das Wesen der 10 Gebote erfassen wir aber erst, wenn wir die Gottesgebote hinzunehmen.
Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen.
Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht missbrauchen.
Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligst.

Nun könnte man ja sagen: Diese Gottesgebote brauchen wir nicht. Ein humanistisches Weltbild ist doch vollkommen ausreichend. Wozu da noch Gott?

Und doch, das ist gerade das Entscheidende, damit die Gebote nicht hehre Forderungen sind, die aber das Schicksal erleiden, das gute Sätze so oft ereilt.

Sondern sie sind Gottes Gabe. Er selbst gibt sie den Menschen.

Den Konfirmand*innen zeige ich hierzu meist ein Bild des jüdisch stämmigen Malers Marc Chagall. Es heißt „Mose empfängt die Gesetzestafeln auf dem Berg Sinai“. Das Besondere: der jüdische Maler zeigt trotz des Bilderverbotes die Hände Gottes. Aus einer Wolke am Berg Sinai reichen Hände die Gebotstafeln an den unten stehenden Mose.
Der Verstoß Chagalls gegen jüdisches Gebot hat eben den Grund: Nicht Mose hat die Gebote erfunden und dann in Stein gemeißelt, sondern sie stammen tatsächlich von Gott!

Mit den Geboten tut Gott sich kund: „Ich bin der Herr dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.“
Das so beginnende erste Gebot ist eigentlich gar kein Gebot, sondern eine Überschrift, eine „Präambel“, wie man meist sagt, eine Selbstkundgebung, eine Offenbarung.

Ich! Ich bin! Ich bin der Herr! Und hier äußert sich noch viel mehr die Autorität Gottes, als in der vergleichsweise harmlosen Formulierung „Du sollst nicht“.

Ich bin der Herr! Das ist der Anspruch, den Gott erhebt. Wir Menschen sagen auch oft “ich“. Damit bringen wir uns ins Spiel. Und nicht selten richten wir damit einen Anspruch auf Herrschaft auf.
Gegenüber allen, die solches Ich sagen, erhebt Gott seinen Anspruch: „Ich bin der Herr!“

Gott, der Herr – damit offenbart sich Gott als Gegenüber aller anderen Herren (und Damen) und uns, insofern wir solche sind, und er ordnet sich ihnen allen über! Über die, die mehr oder weniger Verantwortung tragen, welcher Art auch immer, und insofern Herrschaft ausüben, in den Firmen, im Öffentlichen Leben, in den Familien, an allen Orten.

Heinrich Albertz, evangelischer Pastor und ehemaliger Regierender Bürgermeister von Berlin, hat gesagt: „Dem Herrschaftsanspruch der vielen wird ein absoluter, nicht zur Diskussion stehender, nicht zu kontrollierender Herrschaftsanspruch entgegen gesetzt, unabsetzbar, unkontrollierbar, unabwählbar auf Ewigkeit. Das ist ein unerhörter Vorgang.“ –

Wir hören dies vermutlich skeptisch. Welcher Absolutheitsanspruch! Er verunsichert. Wir wehren ab. Er distanziert uns. Wir wollen und können mit solcher Autorität nichts zu tun haben. Er bestreitet unser eigenes Herrsein, unser Ich, Ich will, Ich bin.

Und doch hören wir beim nächsten Wort einen noch größeren Anspruch: Ich bin nicht nur Dein Herr, nein, ich bin sogar – Dein Gott!
Er, Gott, der unbegreifliche, unfassbare, zeigt sich uns, er tritt mit höchster Autorität in unser Leben. Als mächtigste und letzte Instanz.
Man hat in der Theologie vom Mysterium Faszinosum und Tremendum, vom Geheimnis, das uns magisch anzieht und gleichzeitig Furcht und Zittern in uns auslöst, gesprochen. Gott fasziniert uns, aber er zerschmettert uns auch, wenn wir wirklich mit ihm konfrontiert sind.

Können wir Menschen uns ihm wirklich aussetzen? – (Gedankenstrich)

4)
Als ich selbst als Konfirmand die 10 Gebote auswendig lernen musste, sagten Klassenkameraden, die woanders zum Konfirmandenunterricht gingen strahlend: „Wir haben es einfacher: wir müssen nur lernen: ‚Ich bin der Herr, Dein Gott. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.’“
In unserm Konfirmandenunterricht aber mussten wir das Gebot zu unserem Leidwesen und zu unserem Unverständnis vollständig lernen: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe, du sollst keine anderen Götter neben mir haben.“

Wir haben das damals allenfalls historisch verstanden: na ja, aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft.
Aber es geht um viel mehr! Es kommt gerade auf diesen Zusatz an!

Der Gott, der so groß und unverständlich ist, unfassbar, mysterium, Geheimnis, das anzieht und zugleich bedroht, ist der Gott, der Israel aus Ägypten geführt hat. Er ist der Befreier!

Wir müssen uns den Zusammenhang vor Augen halten, in dem das 2. Buch Mose Gottes Geben der Gebote an das Volk Israel schildert.

„Auf dem Wege aus Ägypten in das verheißene Land befindet sich Israel. Auf dem Wege aus dem pharaonischen Sklavenhaus in die neue, ersehnte Heimat. Gerade ist das Entscheidende geschehen: der große Auszug, die wunderbare, rettende und erlösende Tat Jahwes, in dem er die türe des Sklavenhauses zerbrochen und die dürftige Schar von bedrückten Sklaven – gegen jede mögliche Erwartung und dem totalen Übergewicht des Ausbeuters zum Trotz – befreit hat. Auf diesem Wege zur Freiheit bekommt das israelische Volk die zehn Gebote. Also: kein Befehl des Sklavenhalters dem Sklaven, sondern ein Wort des Befreiers dem Befreiten – das ist der Dekalog. Nicht ein Katalog der Verbote, sondern ein Wegweiser und in diesem Sinne: das Geschenk der Gnade.“ (Lochman) Hier liegt auch der Urgrund unserer Freiheit.

Wir meinen ja, wir wären freie Menschen. Aber sind wir das wirklich?
Können wir wirklich heraus aus den Gegebenheiten? Wir sind geboren an einen bestimmten Ort, in einer bestimmten Umgebung. Wir haben uns die Eltern nicht ausgesucht, nicht die Umstände, unter denen wir gerne leben möchten, nicht die Menschen um uns, nicht die geschichtlichen Umstände. Selbst die Gewohnheiten, die wir haben, alles, was wir tun, unsere Anlagen und Veranlagungen, unsere psychische Struktur, ja und auch wohin wir gehen werden, haben wir nicht in der Hand. Dazu kommt: Wir sind in uns gekrümmt, so hat Luther gesagt, auf uns selbst bezogen – und wir sollten wirklich frei sein?
Darüber kann auch aller Wohlstand und alle vermeintliche Selbstbestimmung nicht hinwegtäuschen, dass wir im Grunde genommen nur kleine Spielräume haben, um selbstbestimmt zu leben. Und wenn wir uns dann auch noch selbst immer wieder binden …?!
Und das möchte ich hinzufügen. Für die meisten Menschen auf diesem Globus ist das Leben eher ein Sklavenhaus, das auch jeden Tag als solches empfunden wird.

„Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland aus der Knechtschaft, geführt habe!“

„Das heißt: es gibt tatsächlich verschiedene Mächte. Es gibt verschiedene Diensthäuser. … Sie haben über uns noch immer die Überhand. Und doch: sie haben keine letzte Macht über uns … Über ihnen allen gilt: „Ich bin der Herr“. Von dieser Botschaft her … eröffnet sich der menschliche Weg, der große ‚Exodus‘, der Ausgang aus aller Gefangenschaft – aus dem Sklavenhause der Natur, der Geschichte, ja auch des letzten Feindes, des Todes. In der Macht dieser Botschaft ist jedes Ägyptenland schon überwunden und auf seinen Trümmern entsteht: die Freiheit. (Lochman)

5)
Ja, liebe Gemeinde. Was ich hier im Blick auf das erste Gebot, besser auf die Präambel, sage, gilt für die 10 Gebote generell. Sie sind alle Evangelium. So möchte ich es jedenfalls formulieren. In ihnen ist das Evangelium, die ganze frohe Botschaft an uns, enthalten: den Befreiten Weisung, damit sie konkrete Hilfe haben, als Befreite auch befreit zu leben. In ihm, in Gott, in Jesus Christus bleiben, in ihm, mit ihm die Welt gestalten, so wie er es uns als richtig an die Hand gibt. Dass sein Wille geschehe, auch hier bei uns auf Erden.

Schluss
Liebe Gemeinde, mit dem Gewichten dieses Bibeltextes gegenüber anderen habe ich die Predigt angefangen: Nachdem, was ich ausgeführt habe, bleibe ich dabei, ja ist es noch dringlicher: es kann gar nicht anders sein. Die Zehn Gebote, sie sind der gewichtigste Bibeltext überhaupt.

Er ist der bekannteste oder zumindest einer der bekanntesten Texte dieser Welt überhaupt.
In ihm offenbart sich Gott als Gott mit seinem ganzen Anspruch.
In ihm offenbart sich Gott, der Befreier.
Es geht also um uns, denn
mit den 10 Geboten gibt er uns Hinweise und Wegweiser der Freiheit auf dem Weg zur vollendeten Freiheit.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.